Vor knapp zweieinhalb Wochen erschien auf der US-amerikanischen Amazon-Seite (amazon.com ist der weltgrößte Online-Buchhandel) ein offener Brief von Firmengründer und Chef Jeff Bezos. Das Amazon-eigene Lesegerät für E-Books, der „Kindle“, sei restlos ausverkauft, die Kunden mögen den Engpass entschuldigen. Schon seit der Markteinführung Ende letzten Jahres hinkt die Produktion des Geräts den Bestellungen hinterher. Doch hinter den Kulissen wird über ein anderes Szenario getuschelt: Künstliche Verknappung. Es könnte der Anfang vom Ende für das gedruckte Wort sein.
Bis zu sechs Wochen müssen Amazon-Kunden in den USA momentan auf ihren „Kindle“ warten. Trotzdem werden Interessenten dazu aufgefordert, sich ihren „Platz in der Reihe“ zu sichern. Außerhalb der Vereinigten Staaten kann der Leser momentan weder bestellt noch genutzt werden. Die Technik ist hier der Haken. Denn der Kindle bezieht seine Daten nicht über das Internet, sondern wie neuere amerikanische Handys über eine 3G-Verbindung. Wo das Handy Netz hat, gibt es über das Gerät also auch Zugang zu den bestellbaren „Buchtiteln“. Über 100.000 sind das momentan. Ausgewählte Tages- und Wochenzeitungen, Magazine oder erwähnte Bücher flattern nach einer Bestellung innerhalb von 60 Sekunden auf den E-Book-Leser. Die Lösung des von älteren Laptop-Displays bekannten Problems der Unleserlichkeit bei ungünstiger Sonneneinstrahlung sind die Entwickler des Kindle pragmatisch angegangen. Denn: Was seit gefühlter Ewigkeit auf Papier funktioniert hat, muss im digitalen Zeitalter ja nicht ausgedient haben. Und so verwendet das Display des Kindle wie seine gedruckte Vorlage Tinte zur Darstellung des Texts.
Es ist ein ungleiches Paar: Hier das Buch als Träger und Vermittler des Wissens, dort der virtuelle Laden, bei dem das Kapital neben den Lieferzentren und Angestellten vor allem aus Binärcode besteht. Es gibt keine Verkaufsräume im eigentlichen Sinn. Realer Verkaufsraum ist knapp. Mieten orientieren sich vor allem an der Lage und an der Kaufkraft der Kunden. Die Verkäufer im Internet überspringen diese Hürde. Sie müssen ihre Abgaben am Kundenaufkommen orientieren: Mehr Kunden heißt mehr Datenverkehr, heißt mehr Hardware- und Unterhaltskosten. Durch den Kindle versucht Amazon auch diesen Kostenpunkt auf Dauer zu minimieren. Dazu kommt das enorme Aufkommen an Versandkosten, die es einzusparen gilt. Denn nur durch die Maßnahme, dass der Kunde für gedruckte Bücher keine zahlt, sondern Amazon selbst das Porto übernimmt, erreichte der Händler den Spitzenplatz unter den Buchhändlern.
Im letzten Jahr stieg der E-Book-Umsatz in den USA um 59 Prozent auf 31,8 Millionen US-Dollar, den Kindle größtenteils noch nicht eingerechnet. Fünfeinhalb Stunden nach dem Verkaufsstart war das Gerät ausverkauft. Trotzdem ist die Verlagswirtschaft von den negativen Auswirkungen des Wissenstransfers ins Internet bislang einigermaßen verschont geblieben. Eins und Null zusammengezählt kann aber bei ausbleibenden Gegenmaßnahmen getrost davon ausgegangen werden, dass ihr in Zukunft ein ähnliches Schicksal wie den Tonträgerunternehmen blühen würde: hohe Umsatzeinbußen. Diesmal aber will die Wirtschaft vorsorgen. Amazon ist dabei williger Vollstrecker der Verlagsinteressen. Durch die Einführung des Kindle in Nordamerika wird der Übergang zur reinen digitalen Wissensübermittlung forciert und der bestehende Umsatz soll in die Kanäle der etablierten Unternehmen fließen.
Die Titelfrage kann also nicht mit einem „oder“ gestellt werden. Denn es ist geschäftliches Kalkül, dass zu einem „echten“ Verkaufsboom des Kindle führen, und dem gedruckten Buch zu einem schmerzlosen Übergang ins neue, digitale Jahrtausend verhelfen soll.
Hallo Roland,
ich glaube der Hype um den Kindle ist sehr viel größer als seine tatsächlichen Verkaufszahlen. Sicher, die Nachfrage übersteigt weiterhin das Angebot. Aber daraus einen Boom ablesen – da spricht vieles dagegen.
E-books machen weiterhin weniger als 1% des Buchmarkes in den USA aus. Auf die E-Book-Bestsellerliste kommt man, seitdem der Kindle erhältlich ist, mit dreistelligen Verkaufszahlen. (siehe http://tinyurl.com/3sf846)
Ein paar hundert Downloads reichen also. Dazu kommt, dass Amazon sehr wohl darauf hinweist, dass das Gerät reißenden Absatz findet, trotzdem aber nicht sagen möchte, wie viel denn jetzt genau verkauft wurden.
Klar ist nur, der Kindle hat das Thema e-book wieder zum Thema gemacht. Und darum auch der Hype: Mit einem Artikel über den Kindle läßt sich nämlich wunderbar die Frage nach der Zukunft des Buches illustrieren, ein idealer Aufhänger also. Konkurrenzprodukte wie der Bookreader von Sony sind zwar weiterhin auf dem Markt, bekommen aber kaum die gleiche Aufmerksamkeit. Ein E-Book Gerät von einem Internet-Buchhändler, besser läßt sich die Sorge um das gute alte Buch mit Einband und Umschlag eben nicht kontrastieren. Ich sage: Weder Kalkül noch Boom, erstmal einfach nur Hype.
Hi Kolja,
Danke für deinen Kommentar. Natürlich, ein Boom ist das nicht. Die Frage war absichtlich provokant gestellt, und von mir ja auch nicht beantwortet (siehe letzter Absatz). Meine „These“ zum Ende der Einleitung ist auch nicht bierernst zu nehmen. Da ist das journalistische Pferd mit mir durchgegangen ;).
Ich stimme dir vollkommen zu, dass es sich um einen Hype handelt, um das Thema wieder in die Presse zu bringen. Vielleicht wäre „Kalkulierter Versuch eines Hypes“ die richtige Umschreibung der Ereignisse.
„Es könnte der Anfang vom Ende für das gedruckte Wort sein.“
Um die tatsächliche Einschlagskraft von solchen Lesegeräten virtueller Texte abschätzen zu können, wird man wohl noch etwas warten müssen, bis die erste Aufregung abgeklungen ist.
Trotz Vynil, Kassette, CD, DVD und Mp3 gehen die Leute noch zu Live Konzerten und auch die Clubszene funktioniert ordentlich – soweit ich das von meiner Couch beurteilen kann 😉 Auch eine noch so tolle Live DVD auf einem 60″ Flatscreen mit Dolby 5.-haste-nicht-gesehen ersetzt nicht die physische Erfahrung eines Konzertes. Internet-Banking ersetzt die physische Bank auch nicht. Auch was man zu den an Besuchern und Ausstellern gewinnenden Buchmessen hört, scheint eine Trendwende wohl so schnell nicht bevorzustehen. Die Entwicklung, dass das E-Book das Real-Book ersetzen wird, hat sich interessantererweise bis jetzt ebenfalls nicht durchsetzen können.
Wenn ich mein Umfeld anschaue, kenne ich niemanden, der eine digitale Version eines Textes, sei es Buch, Zeitung, Magazin etc., einer Printausgabe bevorzugen würde. Bücher sind wahrscheinlich immernoch unter den Top-10 Geschenkartikeln. Was ich mir allerdings gut vorstellen kann, ist dass in 30-40 Jahren, wenn die nächsten Generationen immer selbstverständlicher und kritikloser mit Internet, digitaler Welt und Unterhaltungstechnik aufwachsen, der Anteil an virtuell gelesenen Texten sich vor allem im Tageszeitungsbereich stark erhöhen wird. Ich meine, für uns sind solche Sachen wie im Internet Sachen zu kaufen, online-banking und email ja auch noch relativ neu. Spannend wird es wohl vor allem dann, wenn die Leseerfahrung via solchen „Kindles“ sich derart verbessert und sinkende Preise für E-Books traditionelle Bücher unattraktiv machen. Trotzdem denke ich, dass das Buch nicht ersetzt sondern durch solche virtuelle Leseformen ergänzt werden wird. Auch in 50 Jahren werde ich noch ein Buch in die Hand nehmen.
Es wird interessant sein zu beobachten, wie man reagiert, wenn es den ersten großen Internetcrash (Energiekriege, Cyber Wars, Cyber Crime) geben wird. Wenn virtuelle Informationen einfach vernichtet und verloren sind. Wenn das Technikvertrauen tief erschüttert wird. Ein Tschernobyl des Internets.
Na dann bin ich beruhigt, dass das gute alte Buch nicht sofort unter die Räder kommt.
Eins aber bleibt bestehen: Bei dieser harten Überschrift bekomme ich zunächst nicht Angst um Bücher, sondern werde Berlin-nostalgisch und kriege Bierdurst 😉
Lülle
@ Roland
Krugmans Freitagskolumne (http://www.nytimes.com/2008/06/06/opinion/06krugman.html?_r=1&oref=slogin)bezieht sich auch auf den „Kindle“. Er argumentiert, das Kindle und digitale Bücher tatsächlich eine Chance haben und es gar unabwendbar sein wird, dass alles, was digitalisierbar ist, digitalisiert werden wird. Was das für Bücher und das Schreiben in der Zukunft bedeutet, darüber schweigt er und sagt nur, dass „new ways of doing business“ gefunden werden müssen.
Klugscheisserisch muss ich noch hinzufügen, dass Krugmans letzter Satz „But in the long run, we are all the Grateful Dead.“ ein Wordspiel in Bezug auf John Maynard Keynes viel zitierten Ausspruch „In the long run, we’re all dead.“ ist – na dann 😉 !
Schönen Sonntag,
Lüdde
Somehow i missed the point. Probably lost in translation 🙂 Anyway … nice blog to visit.
cheers, Irrational!!